Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie ist eine von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelte Theorie. Porges ist vielfach ausgezeichneter Universitätswissenschaftler am Kinsey Institute, Indiana University, und Professor für Psychiatrie an der University von Nord Carolina.

Die Polyvagal-Theorie umschreibt eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem (ANS). Sie besagt, dass das ANS ständig unsere Umgebung daraufhin untersucht, ob sie sicher, gefährlich oder sogar lebensbedrohlich erscheint. Dazu verwendet es Signale, die sowohl aus der Umgebung als auch aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Dieser Vorgang, Neurozeption genannt, läuft weitgehend unbewusst ab.

Je nachdem, zu welcher Einschätzung das ANS gelangt, werden unterschiedliche neurophysiologische Vorgänge in Gang gesetzt, die unser Überleben in Gefahr sicherstellen sollen.

Diese Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit.

Das autonome Nervensystem (ANS) in der Polyvagal-Theorie

Das autonome Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der für die unbewussten und unwillkürlichen Funktionen unseres Körpers zuständig ist. Der Name „Autonomes Nervensystem“ rührt daher, dass man lange Zeit dachte, auf diesen Teil hätte man keine Einflussmöglichkeit. Neuere Forschungen zeigen aber, dass dies so nicht stimmt.

Das ANS steuert die Funktion der inneren Organe, wie etwa Atmung, Herzschlag oder Verdauung und Hormonausschüttung und beeinflusst zudem, wie wir heute wissen, unsere emotionale Befindlichkeit und somit unser Verhalten.

In der bisherigen Denkweise ging man davon aus, dass das ANS in zwei Teile aufgegliedert ist: den Sympathischen und den Parasympathischen. Der Sympathikus steuert alle Formen von Aktivität während der Parasympathikus zuständig ist für Entspannung, Erholung und Regeneration. Dabei spielt der Vagusnerv, der X. Hirnnerv, eine entscheidende Rolle.

Das Vagusparadox

Ausgangspunkt der Entwicklung der Polyvagal-Theorie waren Untersuchungen zu Herzfrequenzmustern bei menschlichen Föten und Neugeborenen. In der medizinischen Versorgung von Säuglingen ist bekannt, dass es zu einem massiven Absinken der Herzfrequenz, der sog. Bradykardie, kommen kann. Dieser Zustand ist mit Lebensgefahr verbunden, da die Gefahr besteht, dass in der Folge das Gehirn zu wenig mit Sauerstoff versorgt wird. Vermittelt wird die Bradykardie wahrscheinlich über den Vagusnerv.

Gleichzeitig gibt es einen anderen Effekt, der ebenfalls über den Vagusnerv gesteuert wird. Die Rede ist von der Herzratenvariabilität (HRV). Diese gilt als Anzeichen für gute Gesundheit. Mit Herzratenvariabilität bezeichnet man die Tatsache, dass unser Herzschlag nicht exakt gleichmäßig ist, sondern dass der Abstand von einem Herzschlag zum nächsten leicht variiert. Forschungen haben erwiesen, dass die HRV ein direkter Indikator für die aktuelle Stressbelastung ist. Je höher die Variabilität ist, desto geringer der Stress im Nervensystem. Physiologisch geschieht die Regulierung der Herzfrequenz über die sog. Vagusbremse.

Die Vagusbremse

Die Vagusbremse beschreibt die Fähigkeit des Vagusnervs Einfluss auf die Herzfrequenz zu nehmen. Ohne den regulierenden Einfluss des Vagusnervs auf den internen Schrittmacher des Herzens, den Sinusknoten, läge die Herzfrequenz in Ruhe bei gesunden Erwachsenen um 20-40 Schläge höher. Dies ermöglicht dem Vagus durch Anziehen oder Lösen der Bremse flexibel auf Umweltanforderungen zu reagieren, ohne in den durch den Sympathikus gesteuerten Modus wechseln zu müssen.

Aus den beiden oben beschriebenen, gegensätzlichen Beobachtungen ergibt sich das sog. Vagusparadox: Wie kann die Einwirkung des Vagusnervs auf das Herz einerseits, wenn es die HRV betrifft, ein gesundheitsförderlicher Faktor sein, während im Falle der Bradykardie der gleiche Wirkmechanismus lebensgefährliche Auswirkungen haben kann?

Eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem durch die Polyvagal-Theorie

In über vierzigjähriger Forschungsarbeit erkannte Porges, dass der Vagusnerv nicht ein einzelner Nerv ist, sondern tatsächlich aus zwei separaten Ästen besteht, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Daher der Name „Polyvagal-Theorie“ (von griech. „poly“=viel). Anatomisch versorgen die beiden Vagus-Äste unterschiedliche Regionen. Der dorsale (hintere) Vagus regelt überwiegend die inneren Organe, die unter dem Zwerchfell liegen: den Magen, Teile des Darms, die Leber und die Nieren. Der ventrale (vordere) Vagus hingegen steuert Bereiche oberhalb des Zwerchfells, vor allem jene, die wir für soziale Aktivitäten benötigen: Gesicht, Mund, Kehlkopf, Rachen und Mittelohr sowie das Herz.

Die unterschiedlichen Äste des Vagusnervs sind aber auch unterschiedlich aufgebaut. Der ventrale Vagus besitzt zusätzlich eine „Myelinisierung“ genannte, umhüllende Fettschicht. Diese Fettschicht ermöglicht, in Abhängigkeit von der Dicke der Nervenfasern, eine bis zu 100-fach schnellere Informationsübermittlung durch die Nervenfasern.

Und noch etwas Wesentliches fand Porges heraus: Entgegen der landläufigen Annahme steuert nicht unser Gehirn das Nervensystem, sondern das Nervensystem gibt auch unserm Gehirn entscheidende Handlungsanweisungen. Körper und Gehirn beeinflussen sich in einem Regelkreislauf also gegenseitig. Ein entscheidender Faktor in diesem Regelkreislauf ist eine Fähigkeit des Nervensystems, die Porges im Rahmen der Polyvagal-Theorie „Neurozeption“ nennt.

Neurozeption

Neurozeption bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen – die Umgebung ständig darauf zu überprüfen, ob sie sich sicher, bedrohlich oder gar lebensgefährlich darstellt. Dazu verwendet es Signale, die sowohl über unsere Sinnesorgane aus der Umgebung als auch aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Je nachdem, zu welcher Einschätzung das ANS kommt, aktiviert es einen von drei grundsätzlichen, physiologischen Zuständen:

  1. Bewertet das ANS die Umgebung als sicher, wird das Social-Engagement-System (SES) aktiviert, das u.a. soziale Interaktion ermöglicht. Hierbei wird der ventrale Vagus aktiv.
  2. Wird die Umgebung als bedrohlich eingeschätzt, aktiviert das ANS den Kampf- oder Fluchtmodus. Dies ist eine Aufgabe für den Sympathikus
  3. Erscheint eine Situation als lebensgefährlich und Kampf / Flucht als nicht möglich, bewirkt das ANS über den dorsalen Vagus eine Erstarrung.

Entwicklungsgeschichtlich sind die zwei Äste des Vagusnevs zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Der dorsale Teil ist weitaus älter als der ventrale. In Gefahrensituationen läuft die Reaktion kaskadenförmig ab. Wenn ein „jüngeres“ Verhalten nicht greift oder gelernte Erfahrungen dagegensprechen, wird auf das „nächstältere“ Verhaltensmuster umgeschaltet.

Konkret heißt das, dass ein Mensch, der sich bedroht fühlt, zuerst versucht durch soziale Interaktion die Gefahr zu bannen. Gelingt dies nicht oder erscheint der Versuch von vornherein aussichtslos, schaltet das System um auf „Kampf oder Flucht“. Ist auch dies nicht möglich, wird in den dritten Modus, die Erstarrung, gewechselt.

Traumata führen zu falschen Einschätzungen

Dabei kann es vorkommen, dass das ANS zu einer falschen Einschätzung, in den meisten Fällen zu einer falsch-negativen Einschätzung, der Umgebung kommt: Selbst wenn objektiv kein Grund zur Angst besteht, kann der Körper völlig anders reagieren und wir beginnen plötzlich zu zittern oder unser Herz fängt an, heftig zu pochen.

Dies ist häufig der Fall, wenn Menschen in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen gemacht haben. Das Nervensystem ist in diesen Fällen quasi zu empfindlich eingestellt. Dies ist vergleichbar mit einem Feuermelder, der bereits dann Alarm gibt, wenn nur die Sonne zum Fenster hereinscheint.

Mittels der Neurozeption beeinflusst unser ANS also maßgeblich unser Verhalten.

Der Zustand des ANS als Wahrnehmungs- und Verhaltensfilter

Je nachdem in welchem Modus sich unser ANS aufgrund der autonomen Einschätzung befindet, wird der gleiche Reiz unterschiedlich interpretiert und führt zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen.

Der autonome Zustand beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Verhalten

Der autonome Zustand beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Verhalten

Der Zustand des Autonomen Nervensystems beeinflusst auf diese Weise beispielsweise die Fähigkeit zum Zuhören, zum Verarbeiten von Informationen, in soziale Interaktion treten zu können und generell das gesamte Sozialverhalten. Es hängt also nicht nur von unserem „Wollen“ ab, wie wir uns verhalten und welche Fähigkeiten wir einsetzen, sondern oftmals „können“ wir aufgrund unseres vegetativen Zustandes nicht anders. Das ist eine wichtige Information (nicht nur) für Therapeuten.

Diese Tatsache erklärt recht schlüssig, warum es vielen Menschen so schwer fällt, die Dinge, die sie als richtig erkannt haben, in die Tat umzusetzen. Oder warum es uns häufig geschieht, dass wir in einer Übung oder in einer entspannten Situation als hilfreich erlebte Verhaltensweisen souverän beherrschen – und sie uns unter Stress plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Das Nervensystem verknüpft ja Informationen aus verschiedensten Hirnbereichen miteinander und mit den Organen. Je größer die Gefahr über die Neurozeption eingeschätzt wird, desto weniger Gehirnbereiche stehen uns zur Verfügung. Wird der ventrale Vagus in seiner Aktivität reduziert, sind weite Bereiche unseres kognitiven Verstandes nicht mehr zugänglich. Und wenn wir in einen dorsal-vagalen Zustand fallen, regiert ausschließlich das Stammhirn mit seinen eingeprägten Instinkten.

Anzeichen der unterschiedlichen Zustände des ANS

Die nachfolgenden Schaubilder verdeutlichen die typischen Verhaltens- und Erlebensweisen in den jeweiligen autonomen Zuständen. Aus der Sicht der Polyvagal-Theorie erscheinen viele – in der herkömmlichen Sichtweise der Medizin – als krankhaft eingestuften Verhaltensweisen und Symptome plötzlich als nachvollziehbare Stressreaktionen. Diese hatten zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine äußerst sinnvolle Funktion.

Wenn sich unser Nervensystem sicher fühlt, dominiert der vertrale Vagus unser Verhalten und Erleben.

 

ventral-vagaler Zustand aus Sicht der Polyvagal-Theorie

ventral-vagaler Zustand

Fühlen wir uns bedroht, geraten wir zunehmend in den „Kampf / Fluchtmodus“. Alle Aufmerksamkeit wird auf die Bedrohung gerichtet und alle Energie für die Mobilisation reserviert.

Sympatikotoner Zustand aus Sicht der Polyvagal-Theorie

sympathikotoner Zustand

Werden wir in der Situation überwältigt und können weder kämpfen noch fliehen, geraten wir zunehmend in den Zustand der Erstarrung. Alle Energiereserven werden gebündelt für eine letzte Kampf oder Fluchtaktion, falls sich diese ergeben sollte.

dorsal-vagaler Zustand

dorsal-vagaler Zustand

Dies ist natürlich kein „digitaler“ Prozess im Sinne von Ein/Aus, sondern ein kontinuierliches Pendeln zwischen den unterschiedlichen Zuständen, in Abhängigkeit von der Neurozeption. Allerdings kann dieser Wechsel auch sehr heftig innerhalb kürzester Zeit geschehen.

Wechselwirkungen im Autonomen Nervensystem

Wechselwirkungen im Autonomen Nervensystem

Im ventral-vagalen Zustand befindet sich unser Nervensystem in Ruhe. Es besteht eine autonome Balance zwischen dem Sympathikus und den dorsalen Vaguspfaden. Die in diesem „Energiesparmodus“ eingesparte Energie steht für gesundheitsförderliche Maßnahmen, wie etwa Zellentgiftung oder Erneuerung, zur Verfügung.

Eine neurozeptive Wahrnehmung von Gefahr schwächt oder neutralisiert die Aktivität des ventralen Vagusstranges und verschiebt das Gleichgewicht. Das ANS optimiert sich auf das Ziel hin, durch Defensivreaktionen wie Kampf / Flucht oder Erstarrung, Gefahren abzuwehren.

Die Koppelung des Systems für soziale Verbundenheit (ventral-vagal) mit den dorsal-vagalen Regulationen der Organe unterhalb des Zwerchfells schafft optimale Voraussetzungen für Intimität und Paarung. Immobilität bedeutet für Säugetiere erhöhte Verletzlichkeit. Nähe und Kontakt müssen als sicher eingeschätzt werden, damit die für Intimität notwendige Immobilisierung ohne Angst erfolgen kann.

Das Social-Engagement-System (SES)

Das Social-Engagement-System (SES) oder System für soziale Verbundenheit findet sich nur bei Säugetieren. Es ist maßgeblich vom ventralen Vagus gesteuert. Die einzelnen Teile des SES beeinflussen sich dabei wechselseitig. Zum SES gehören neben dem Herz und der Lunge alle Bereiche des menschlichen Körpers, die für soziale Interaktion entscheidend sind. Dies sind u.a. die Gesichtsmuskulatur, besonders der oberen Gesichtshälfte (Augenringmuskel), der Kehlkopf und die Gehörmuskulatur.

Ist das SES voll ausgereift, erfüllt es zwei wichtige Funktionen. Erstens dient er der weitgehenden Regulation des körperlichen Zustandes, sodass er Entwicklung und Heilung fördert. Dies geschieht, indem der ventrale Vagus Stressreaktionen herunterreguliert, etwa durch Dämpfung der Ausschüttung von Stresshormonen oder Beeinflussung des Immunsystems.

Zweitens übermittelt es über die bei Säugetieren vorhandene Gesicht-Herz-Verbindung Informationen über den körperlichen Zustand. Dies geschieht u.a. über den Gesichtsausdruck, die Stimmmelodie (Propsodie) und die Steuerung der Mittelohrmuskulatur. Letztere ermöglicht es, auf die Frequenz der menschlichen Stimme zu fokussieren.

Wir werden mit einem unreifen Nervensystem geboren

Zum Zeitpunkt der Geburt, ist unser Nervensystem – und damit auch unser SES – noch lange nicht ausgereift. In der 32. Schwangerschaftswoche befindet sich unser Nervensystem noch in einem Zustand, der neurologisch mit dem Entwicklungsstand von Reptilien vergleichbar ist. Erst nach und nach reift unser Nervensystem innerhalb der ersten Lebensjahre zu seiner vollen Funktionsfähigkeit heran. Wesentlich dafür sind die Umweltreize.

Die Regulation des Nervensystems muss erlernt werden

Sowohl die Fähigkeit zur Regulation unseres Nervensystems als auch die zur sozialen Interaktion sind nicht angeboren. Säuglinge bzw. Kleinkinder müssen dies in den ersten Lebensmonaten und -jahren durch Nachahmung der Bezugspersonen, meist der Mutter, erst erlernen.

Bei Säugetieren ist die neuronale Regulationsfähigkeit des ANS eng mit der neuronalen Regelung der für das Hören und Sprechen zuständigen Muskulatur gekoppelt (Mittelohr, Rachen, Kehlkopf). Diese sind auch maßgeblich für die Aktivitäten des Social-Engagement-Systems.

Die Regulation, also Beruhigung oder Stimulation des Neugeborenen, geschieht durch eingestimmte Kommunikation und Einfühlen in das Kind. Die Mutter reguliert quasi das Nervensystem des Kindes mit ihrem eigenen Nervensystem. Sehr anschaulich ist dieser Mechanismus dargestellt im YouTube-Video „Still–Face-Experiment“ des Forschers Edward Tronick. In diesem Experiment ist zu sehen, wie eine Mutter und ihr Kleinkind miteinander interagieren. Nach einiger Zeit schaut die Mutter kurz weg und wendet sich darauf wieder dem Kind zu, diesmal allerdings mit einem erstarrten Gesichtsausdruck und ohne auf das Kind zu reagieren. Das Kind gerät daraufhin unter massiven Stress, obwohl die „Erstarrung“ der Mutter nur eine Minute anhält. Das Experiment zeigt eindrücklich, wie sehr Kinder auf soziale Interaktion mit den Bezugspersonen angewiesen sind, um sich selbst regulieren zu können.

Die Folgen von Traumata in der frühesten Kindheit

Wie genau diese Co-Regulation geschieht, ist noch nicht abschließend wissenschaftlich geklärt. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass bestimmte Hirnzellen, die sog. Spiegelneurone, eine wichtige Rolle dabei spielen. Spiegelneurone sind u.a. dafür verantwortlich, dass wir, wenn wir auf unser Gegenüber eingestimmt sind, dessen Gefühle wahrnehmen können.

Kommt es in dieser Lebensphase für das Kind zu traumatischen Erfahrungen, wie z.B. Trennung von den Bezugspersonen oder emotionale Vernachlässigung, kann das SES in seiner Entwicklung nachhaltig gestört werden. Man spricht in diesem Fall von einem Entwicklungstrauma, im Gegensatz zum Schocktrauma, das durch ein einzelnes, furchtbares Erlebnis ausgelöst wird.

Hinweise auf eine mögliche Störung des Social-Engagement-Systems sind:

  • Ausdruckslose Stimme ohne Prosodie (Lautmelodie)
  • Verminderter Augenkontakt
  • Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation
  • Abgestumpfter Gesichtsausdruck, insbesondere der oberen Gesichtshälfte (Augenringmuskel)
  • Schwierigkeiten in der Affektregulation (zappelig, ängstlich, schreckhaft, ablenkbar, impulsiv, etc.)
  • Gestörte vagale Reaktion (z.B. Verdauung)
  • Probleme beim Zuhören, besonders in lauter Umgebung
  • Geräuschempfindlichkeit
  • Lichtempfindlichkeit

Ein Gefühl von Sicherheit ist entscheidend

Nur wenn wir – oder genauer gesagt unser Nervensystem – sich sicher genug fühlt, können wir in soziale Interaktion treten und gleichzeitig vermittelt uns soziale Interaktion ein Gefühl von Sicherheit.

Wie aber können wir unserem Autonomen Nervensystem genügend Sicherheit vermitteln? Dazu gibt es grundsätzlich zwei sich ergänzende Möglichkeiten. Porges bezeichnet diese in der Polyvagal-Theorie als aktive und passive Pfade.

Der passive Pfad aktiviert das System für soziale Verbundenheit über Signale aus der Umwelt, die für Sicherheit stehen. Dies sind beispielsweise eine ruhige Umgebung, positive und mitfühlende Interaktionen mit anderen Menschen oder Musik im Frequenzbereich der vokalen Signale für Sicherheit, etwa durch Gesang oder Holzblasinstrumente.

Die aktiven Pfade hingegen stimulieren das System für soziale Verbundenheit über Sprechen, kontrolliertes Atmen oder bestimmte Körperhaltungen. Ob der aktive Pfad aber überhaupt zugänglich ist, hängt davon ab, ob dem ANS über den passiven Pfad im Vorfeld bereits ein Mindestmaß an Sicherheit vermittelt wurde. Um Sicherheit in uns selbst erzeugen zu können, sind wir also existenziell auf soziale Interaktionen – also die Unterstützung durch andere Menschen – angewiesen.

Erstaunlicherweise muss diese Unterstützung nicht aktuell geschehen. Auch die Erinnerung an unterstützende Momente kann große Wirkung zeigen. Dies erklärt die grundlegende Bedeutung der Bindungserfahrungen für das subjektive Erleben von Sicherheit.

Das Safe and Sound Protocoll (SSP) – eine effektive klinische Anwendung der Polyvagal-Theorie

Wie oben schon gesagt, ist die neuronale Regulationsfähigkeit des ANS eng mit der neuronalen Regelung der für das Hören und Sprechen zuständigen Muskulatur gekoppelt. Da lag es nahe, dieses „Eingangstor“ therapeutisch zu nutzen, um betroffenen Menschen zu helfen, die erwähnten Störungen zu überwinden. Nach jahrelanger Forschung gelang dies Stephen Porges schließlich im Jahr 2017. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Polyvagal-Theorie, entwickelte er mit dem SSP eine wirksame Methode, die das ANS wieder in einen entspannten Zustand bringen kann.

Auswirkungen der Polyvagal-Theorie auf therapeutisches Arbeiten

Die Erkenntnisse aus der Polyvagal-Theorie haben weitreichende Auswirkungen auf Vorgehen und Inhalt einer Psychotherapie. Das betrifft sowohl das Erklärungsmodell für die Entstehung von psychischen Krankheiten und deren Diagnose als auch die Vorbereitung der Therapiesitzung sowie das das therapeutische Vorgehen in der Sitzung. Zu diesem Bereich biete ich Fortbildungen an, wie Berater*innen und Therapeut*innen die Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie in ihrer praktischen Arbeit anwenden können.

Sicherheit ist die Therapie

Aus dem Blickwinkel der Polyvagal-Theorie ist ein neurozeptiv wahrgenommenes Gefühl der Sicherheit – sowohl auf Seiten des Klienten als auch auf Therapeutenseite – die wichtigste „Zutat“ für eine gelingende Therapie. Erst wenn das Autonome Nervensystem die Umgebung als sicher wertet, können therapeutische Interventionen ihre volle Wirkung entfalten.

Aus der Polyvagal-Theorie wissen wir, dass das Gefühl von Sicherheit die Domäne des ventralen Vagus ist. Möchte ich, dass mein Klient sich sicher fühlt, muss ich also dafür sorgen, dass auch bei ihm der ventrale Vagus aktiviert ist. Nach den Regeln der Neurozeption muss dafür zuallererst der Therapeut im Zustand der ventralen Vagusaktivität sein. Alles, was dem Therapeuten Sicherheit gibt, hilft auch dem Klienten, sich sicher zu fühlen. Dann erst können weitere Schritte folgen.

„Die Chemie“ muss stimmen

Ein weiterer wichtiger Punkt ist „die Chemie“ zwischen Klient und Therapeut. Der Therapeut muss den Klienten mögen. Das heißt nicht, dass er mit allem einverstanden sein muss, was der Klient tut! Aber es muss eine grundsätzliche Sympathie bestehen. Oder wie die Traumatherapeutin Dami Charf es ausdrückt: „Ich therapiere niemanden, mit dem ich nicht auch gerne eine Tasse Kaffee trinken gehen würde.“ Der Psychiatrieprofessor Daniel Siegel beschreibt das poetisch so: „Therapie ist eine Liebesbeziehung auf Zeit ohne sexuelle Intention“.

Eingestimmte Kommunikation

Mit dieser Haltung im Hintergrund kann der nächste Schritt erfolgen. Eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, ist eingestimmte Kommunikation. Diese Art der Kommunikation wird auch rechtshemisphärische Kommunikation genannt, da hierbei die Fähigkeiten der rechten Gehirnhälfte besonders gefragt sind.

Eingestimmte Kommunikation zeichnet sich aus durch zugewandte Aufmerksamkeit sowie absichtsloses, annehmendes, bedingungsloses Zuhören. Auch dies ist mehr eine Haltung denn eine Technik. Sätze wie: „Du bist im Moment das Wichtigste!“, „Ich bin ganz bei Dir!“, „Ich unterstütze Dich und passe auf, dass alles sicher ist und nichts Schlimmes passiert!“ beschreiben die Haltung des Therapeuten.

Hinzu kommt der andere Teil der Kommunikation – das Sprechen. Dieses muss mit dem ganzen Körper, der Mimik, den Augen, der Stimmlage und der Stimmmelodie (Prosodie) geschehen. Auf diese Weise hat das Nervensystem des Klienten vielfältige Gelegenheiten, Signale für Sicherheit auf verschiedenen Sinneskanäle zu empfangen.

Wenn dies ausreichend gelingt, gelangt auch der Klient mehr und mehr in einen ventral-vagalen Zustand. Mit zunehmender Einstimmung geraten die Gehirne und Nervensysteme von Therapeut und Klient in Resonanz und beginnen miteinander zu schwingen. Der Therapeut empfindet auf diese Weise die Gefühle des Klienten. Der Klient „fühlt sich gefühlt“, zutiefst verstanden.

Hat sich der Therapeut auf diese Weise in den Klienten eingeschwungen, kann er über die Regulation seines eigenen Nervensystems den Klienten Co-Regulieren. Aus der Wahrnehmung einer tiefen Verbundenheit heraus kann dann der Therapeut eine geeignete Intervention auswählen und in der gleichen Verbundenheit erspüren, ob die Intervention greift oder ob sie Unsicherheit hervorruft.

Ziele einer Therapie

Eine solche Atmosphäre des Miteinanders in tiefer Verbundenheit bietet beste Voraussetzungen für das Erleben von Sicherheit. Ziel einer jeden Therapie ist es, dass der Klient im sicheren Rahmen der Therapie die Möglichkeit erhält, neue, heilsame Erfahrungen zu machen und förderliche Fertigkeiten einzuüben. Erfahrungen, die Menschen im Zustand von Sicherheit gemacht haben, wirken zukünftig ebenfalls als Signale für Sicherheit. So können aktive Pfade zur Selbstregulation etabliert werden.